Land auswählen

Pulldown 2
Pulldown 2
Pulldown 2
Pulldown 2
Pulldown 2
Pulldown 2
Pulldown 2
Pulldown 2
Pulldown 2

„Hacking sollte Schulfach werden“


Interview mit Lola Güldenberg

Weniger Stress, mehr Lebensqualität: Die Digitalisierung beschert den Menschen ein besseres Leben, sagt die Berliner Trendforscherin Lola Güldenberg. Ein Zukunftsgespräch über intelligente Küchengeräte, smarte Schüler und das Züchten von Bakterien im Wohnzimmer.

Interview: Claus Gorgs

Lola-Güldenberg

Frau Güldenberg, wann haben Sie das letzte Mal einen Einkaufszettel geschrieben?
(lacht) Das war gestern. Auf einem Post-it-Zettel. Mit Bleistift.

Von einer Trendforscherin hätten wir erwartet, dass das längst Ihr für Sie Kühlschrank erledigt.
Ich war gerade in Potsdam und habe einen Labortisch für die kleine Elektronikwerkstatt gekauft, die ich in meinem Wohnzimmer stehen habe. Und fast hätte ich für 400 Euro auch noch einen Inkubator mitgenommen, in dem man Bakterien züchten kann, aber das war mir dann doch zu teuer. Vielleicht sollte ich mir einen Kühlschrank kaufen, der einkaufen und Bakterien züchten kann. Sowas fehlt mir in der Tat noch.

Entschuldigung, wofür züchten Trendforscher Bakterien?
Um Biokunststoffe herzustellen. Wenn man Trends erkennen will, ist es gut, selbst ein wenig Materialforschung zu betreiben und sich mit neuen Technologien auseinanderzusetzen. In meiner Elektronikwerkstatt tüftele ich gerade daran, den Dash-Button von Amazon zu hacken, um daraus einen Prototypen zu machen, mit dem sich Nachbarschaftshilfe besser organisieren lässt.

Der Dash-Button ist ein Klingelknopf, mit dem man ohne Computer oder Smartphone bei Amazon bestellen kann. Was hat das mit Nachbarschaft zu tun?
Der umfunktionierte Dash-Button wird hier im Haus an ältere Menschen verteilt, die darüber Hilfe anfordern können. Dieser Hilfswunsch landet dann per App bei den anderen Hausbewohnern. Wir haben uns in unserer Hausgemeinschaft vier verschiedene Stufen ausgedacht: Das fängt beim Öffnen eines Marmeladenglases an oder mit der Bitte, einen Brief mit zur Post zu nehmen, und geht bis zur Begleitung zu einem Arzttermin. Beim Arbeiten daran habe ich neulich beim Löten meinen Wohnzimmertisch angekokelt. Deshalb habe ich mir jetzt den Labortisch gekauft, das ist sicherer.

Heißt das, Sie spüren Trends nicht nur nach, Sie erschaffen sie auch selbst?
Ich muss die Dinge immer selber ausprobieren, dann kann ich sie auch besser einschätzen. Im Internet kursieren Anleitungen, wie man seine eigene DNA selbst extrahieren kann, das muss ich unbedingt mal ausprobieren. Mikroelektronik, Robotik, egal, um was es geht, ich versuche immer, mich in Zukunftsthemen wenigstens ein bisschen hineinzuarbeiten.

Dann erzählen Sie doch mal, wie wir in zehn Jahren leben und welche Technologien wir nutzen werden, von denen wir heute vielleicht noch gar nichts ahnen.
Ich bin ganz, ganz sicher, dass die Sensorik in unserem Wohnumfeld stark zunehmen wird. Der Dash-Button zeigt sehr schön, wie das Internet der Dinge wirklich funktioniert: Ich brauche keinen Computer und keinen Browser mehr, um online etwas zu bestellen. Ich mache das mit einem Klingelknopf. Das Internet verlagert sich hinein in die anfassbare Welt: in den Boden, in die Wände, in die Türklinke, in die Kaffeemaschine. Die Zahl der digitalen und mechanischen Assistenten wird zunehmen, wir werden einen Automatisierungsgrad erleben, wie wir ihn bisher nur aus der Industrie kannten. Das eröffnet völlig neue Perspektiven für jeden Haushalt, insbesondere für das Wohnen im Alter. Senioren werden viel länger als bisher in der Lage sein, ein autonomes Leben zu führen. Aber natürlich bringt die neue Technik nicht nur Vorteile.

Welche Nachteile sehen Sie?
Der Stromverbrauch wird dramatisch ansteigen. Wenn ich mit dem Smartphone meine Kaffeemaschine oder meine Heizung steuern will, müssen sämtliche Geräte ständig in Bereitschaft sein. Wenn permanent Daten von einem Ort zum anderen gesendet werden, kostet das nun mal Energie. Was wir bei den Handys schon lange kennen, überträgt sich auf das Internet der Dinge: Alles ist „always on“. Das wirft natürlich auch Fragen nach der Datensicherheit auf, die dringend gelöst werden müssen.

Welche Folgen wird die Digitalisierung für die Arbeitswelt haben?
Das Schreckensszenario, wonach die Digitalisierung massenhaft Arbeitsplätze vernichten wird, sehe ich nicht. Im Gegenteil: Digitalisierung wird die Fähigkeiten der Mitarbeiter erweitern, sie werden Dinge tun können, die vor zwei Jahren noch völlig undenkbar waren. Der Arbeitsplatz, so wie wir ihn kennen, wird sich allerdings komplett ändern. Standardisierte Tätigkeiten, die dem immer gleichen Muster folgen, werden automatisiert werden. Der Mensch als Entscheider, als höchste Instanz wird aber unabdingbar bleiben. Die menschenleere Fabrik wird es ebenso wenig geben wie das menschenleere Büro.

Standardtätigkeiten werden automatisiert und trotzdem kostet die Digitalisierung keine Jobs? Wie passt das zusammen?
Die Digitalisierung sorgt für Verschiebungen innerhalb der Arbeitswelt. Nehmen wir zum Beispiel den Bereich Logistik. Aufgrund des wachsenden Onlinehandels ist dort innerhalb kürzester Zeit eine ganze Armee von Zustellern aus dem Boden gestampft worden. Auch die Möglichkeiten der Zustellung haben sich vervielfältigt: Ein Paket kann beim Nachbarn abgegeben werden, in einem nahe liegenden Geschäft oder einer Packstation. Demnächst sogar im Kofferraum eines Autos. Dafür braucht es Personal, sowas kommt ja nicht von allein. Ähnliche Entwicklungen werden wir auch im Bereich der Robotik und der IT sehen, überall dort, wo Schnittstellen zwischen der virtuellen und der realen Welt entstehen.

Die vielen Paketzusteller könnten übermorgen bereits durch Drohnen ersetzt werden.
Wenn wir ernsthaft versuchen würden, die Paketzustellung in Großstädten über Drohnen zu organisieren, würde das im kompletten Chaos enden. An abseits gelegenen Orten macht die Zustellung mit Hilfe von Drohen Sinn, in Großstädten wird es sehr strikte Regeln für den Einsatz von Drohnen geben. Die Erlaubnis, niedrig fliegende Drohnen einzusetzen, wird der Polizei, den Nachrichtendiensten und der Verkehrsüberwachung vorbehalten sein. Schon aus Sicherheitsgründen.

Durch die Digitalisierung verschwimmen die Grenzen zwischen Privat- und Berufsleben mehr und mehr. Halten Sie das für eine wünschenswerte Entwicklung?
Da bin ich zwiegespalten. Für mich als alleinerziehende Mutter ist das großartig, ich könnte gar nicht anders arbeiten. Als Selbstständige habe ich aber auch den Luxus und das Privileg, selbst über meine Flexibilität entscheiden zu können. Und ich arbeite mit Menschen zusammen, die ähnlich aufgestellt sind, so dass wir uns unabhängig von Ort und Zeit weltweit austauschen können. Ich bin sehr dankbar, dass ich so arbeiten darf, weil ich dadurch viel selbstbestimmter bin und eine höhere Lebensqualität habe. Mir ist aber sehr wohl bewusst, dass viele Arbeitnehmer diese Freiheit nicht haben. Für uns alle gilt, dass wir lernen müssen, mit der dauernden Verfügbarkeit umzugehen und klare Grenzen setzen. Ich selbst nehme mir zum Beispiel digitale Auszeiten, in denen ich ganz bewusst nicht erreichbar bin.

Dank smarter Büros und Fabriken werden Arbeitgeber künftig in Echtzeit wissen, wo ihre Angestellten sich gerade aufhalten, wie lange sie Pause machen und wie oft sie zur Toilette gehen. Das klingt nach totaler Überwachung.
Unternehmen stehen bereits heute vor dem Problem, dass sie mehr Daten haben, als sie sinnvoll auswerten können. Diese Entwicklung wird sich durch Big Data noch verstärken. Die Frage ist nicht mehr, über welche Daten ich verfüge, sondern welche davon relevant sind. Ich nenne das den Übergang von der Wahrheit zur Wahrscheinlichkeit. Wenn ein Mitarbeiter gute Arbeit leistet, ist es egal, wie oft er am Tag auf die Toilette geht oder ob er vielleicht zwischendurch eine Runde im Hof dreht. Das ist nicht relevant. Ein Container wird sich künftig den Weg zu seinem Ziel selber suchen. Als Empfänger muss ich nicht wissen, ob er mit der Bahn, dem Schiff oder dem Flugzeug gekommen ist. Hauptsache, er ist zur richtigen Zeit am Bestimmungsort. Da wird bei vielen Unternehmen ein Umdenken einsetzen müssen.

Ist die Digitalisierung gleichbedeutend mit dem Ende der Privatheit?
Der Begriff der Privatheit wird gerade neu definiert – und damit auch die Vorstellung dessen, was schützenswert ist. Ich zum Beispiel fühle mich bereits gehetzt und unter Druck gesetzt, wenn ich bei What’sApp 35 ungelesene Nachrichten habe. Für die Jugendlichen von heute ist das überhaupt kein Problem. Die haben 135 ungelesene Nachrichten und sind dabei ganz locker. Ich hab dann einige gefragt, ob sie nicht Angst haben, eine wichtige Nachricht zu verpassen. Und die Antwort war: Nein, wenn’s wirklich wichtig ist, meldet sich die wirklichen Freunde zusätzlich auch über Facebook, Instagram oder Twitter. Und parallel haben sowie alle Skype installiert. Die Nähe, die dadurch entsteht, unterscheidet sich durch nichts von den Treffen früher mit meinen Freunden an der Bushaltestelle. Da wirkt nichts hohl, die Freundschaft, die Allteilnahme ist echt.

Gleichzeitig gibt es Stalking, Cybermobbing und die Erpressung junger Mädchen mit Nacktfotos im Netz.
Deshalb ist es ganz wichtig, dass die Jungen und Mädchen heute sehr früh medienpädagogisch lernen müssen, was sie da im Netz tun. Hacking sollte ein Schulfach werden. Bei jeder neuen Online-Entwicklung sollten Themen wie Sicherheit und Datenschutz immer mitgedacht und –entwickelt werden. Das ist leider noch nicht der Fall – und das beunruhigt mich sehr.

Steve Jobs hat einmal sinngemäß gesagt: Wenn wir die Kunden gefragt hätten, was sie wollen, hätten wir niemals das iPhone entwickelt. Welche Bedürfnisse sehen Sie heute, von denen wir noch gar nicht wissen, dass wir sie haben?
Das Thema Automation im Alltag wird eine immer größere Rolle spielen. Nehmen Sie den Rasenmäher-Roboter oder die Thermomix-Küchenmaschine: Von solchen „intelligenten“ Haushaltshilfen wird es künftig noch viel mehr geben. Was sich noch ändern muss, ist das Bewusstsein vieler Menschen, sich auch wirklich helfen zu lassen. Auch im Bereich Textilien wird sich sehr viel tun. Wir sind heute in der Lage, empfindliche Sensoren direkt in Stoffen zu verweben, Vorhänge, Tapeten und Kleidungsstücke. Da wird es einen unglaublichen Boom geben mit Produkten, die wir uns heute noch nicht vorstellen können.

Werden wir in 20 Jahren in virtuellen Welten leben?
Das nicht, aber es wird immer mehr Berührungspunkte zwischen der virtuellen und der realen Welt geben. Wir werden nicht mehr zwischen online und offline unterscheiden. Nehmen Sie den Hype um das Handyspiel Pokemon Go: Da werden virtuelle Comicfiguren in die reale Welt übertragen, beides verschmilzt und wird eins. Ganz ähnlich ist es auch bei Amazons Dash-Button. Solche Entwicklungen werden wir in Zukunft noch viel häufiger sehen. Wir brauchen dann keinen Rechner und kein Smartphone mehr, um online zu sein.

Was glauben Sie: Wann werden Sie Ihren letzten Einkaufszettel schreiben?
Ich gewöhne mir gerade an, viel mehr mit Sprache als Steuerungsinstrument zu arbeiten. Ich teste gerade Programme wie Google Voice und Siri und bin total überrascht, wie effizient die Sprachsteuerung bereits funktioniert. Ich kann mir gut vorstellen, dass ich meinen Einkaufszettel schon sehr bald einfach einspreche und im Supermarkt vorlesen lasse.

Vita:
Lola Güldenberg (46) studierte Design in Köln und Hong Kong und arbeitete parallel als Industrie- und Konzeptdesignerin. Nach einigen Jahren in der Werbebranche, in denen sie unter anderem für Grey und Frogdesign arbeitete, gründete sie 2001 ihre eigene Agentur für Trend- und Konsumentenforschung in Berlin. Lola Güldenberg berät unter anderem die Deutsche Bahn, Wella, Tchibo, BASF und die Deutsche Telekom, hält Vorträge und ist Lehrbeauftragte an mehreren Universitäten und Fachhochschulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

Mehr über Lola Güldenberg und ihre Arbeit bei Facebook
Lola Güldenberg