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"Demokratie hat keinen Schaukelstuhl“

Interview mit Franz Müntefering

Alt werden ist kein Grund zu jammern, sagt Franz Müntefering. Und wenn alle Generationen mit anpacken, ist auch der demografische Wandel zu meistern. Der frühere SPD-Chef ist auch mit 77 noch kein bisschen müde – und hat ein paar Ratschläge für seine Nachfolger in Berlin.

Interview: Claus Gorgs

Quelle: franz-muentefering.de

Herr Müntefering, Sie sind Vorsitzender des Seniorenverbands BAGSO, Präsident des Arbeiter-Samariter-Bundes und nehmen nahezu täglich Termine wahr. Sind Sie das lebende Vorbild für die Rente mit 77?
(lacht) Nein, ich will überhaupt kein Vorbild sein, davon halte ich nicht so viel. Ich mache das, weil ich Spaß daran habe und weil es auch ein Stück Gesellschaftspolitik ist. Politik ist nicht nur das, was der Staat macht, sondern heißt auch, sich persönlich für unsere Gesellschaft zu engagieren. Das interessiert mich und da bleibe ich auch aktiv.

Die Senioren werden nicht nur immer älter, sie sind auch aktiver als früher. Wie verändert das die Gesellschaft?
IVerglichen mit früheren Generationen haben ältere Menschen heute eine um zehn bis fünfzehn Jahre verlängerte Lebensphase – und die ist ziemlich gut. Die große Mehrheit wird nämlich relativ gesund alt und das ist doch schön, wenn man das Leben mag. Nur: Was ist, wenn man nicht mehr in seinem Beruf arbeitet, nicht mehr produktiv ist? Trägt man dann trotzdem noch Verantwortung? Ich meine ja. Demokratie hat keinen Schaukelstuhl. Auch wir Älteren sind in der Pflicht, uns für diese Gesellschaft zu engagieren. Das muss nicht in der Politik sein, das kann auch in der Familie sein oder ehrenamtlich in Vereinen. Alle müssen dazu beitragen, dass Gesellschaft gelingt.

Was ist für Sie die größte Herausforderung durch den demografischen Wandel?
Wir müssen die Probleme nachhaltig lösen und dürfen nicht kurzatmig werden. Die Rente mit 67 ist dafür ein gutes Beispiel. Wir haben sie langsam aufgebaut, erst 2029 wird sie vollständig greifen. Das hat uns nicht nur Freunde gemacht, aber wir haben rechtzeitig angefangen, uns Schritt für Schritt auf die neuen Gegebenheiten einzustellen, so dass es für alle Beteiligten tragbar ist. Die demografische Entwicklung muss nicht zu schweren Belastungen führen. Der Wandel ist kein Naturgesetz, dem wir uns zu fügen haben, sondern er ist durch uns Menschen gestaltbar.

Betrübt es Sie nicht, dass ausgerechnet Ihre Partei Teile dieser Reformen wieder zurückgedreht hat?
Die Rente mit 63 für langjährig Beschäftigte hätte ich nicht gemacht. Das ist einfach das falsche Signal. Ich hätte auch die Mütterrente nicht aus der Rentenkasse bezahlt, denn damit hat sie nichts zu tun. Da gibt man sich in der ganzen Koalition Illusionen hin, die angesichts der tatsächlichen Entwicklung nicht gerechtfertigt sind. Etwas anderes sind die jüngsten Änderungsvorschläge beim Arbeitslosengeld. Wir werden uns daran gewöhnen müssen, dass Menschen nicht mehr ihr ganzes Leben in dem Beruf arbeiten werden, den sie einmal gelernt haben. Sie müssen sich ständig fortbilden, manchmal umlernen und technisch auf der Höhe der Zeit bleiben. Das ist ein neues Bild von Arbeit. Deshalb finde ich es richtig, Arbeitsuchende, die sich weiterbilden wollen, über einen längeren Zeitraum zu unterstützen und der Bundesagentur für Arbeit die Zuständigkeit für Qualifizierung zu übertragen. Das sind Gedanken, die vertieft werden sollten.

Was muss passieren, damit unsere Sozialsysteme für alle Generationen gerecht und funktionsfähig bleiben?
Ich glaube nicht, dass wir einen grundlegenden Umbau der Sozialsysteme brauchen. In 20 Jahren sind die sogenannten Baby-Boomer, die in den 1950er und 1960er Jahren geboren wurden, zwischen 80 und 95 Jahre alt. Danach werden die Zahlen der Berufstätigen und der Rentner wieder in einem normalen Verhältnis zueinander stehen. Über diesen „Berg“ müssen wir drübersteigen, indem wir die Zuzahlungen an die Sozialkassen aus dem Steuertopf zeitweilig erhöhen. So bleiben die Beiträge für die aktiven Erwerbstätigen bezahlbar. Eine wichtige Rolle spielt auch die Lohnentwicklung. Je höher die Gehälter sind, desto höher ist auch das Beitragsaufkommen – und damit die finanzielle Reserve.

Ist das ein Plädoyer für größere Lohnsteigerungen?
Das wird ohnehin so kommen. Weil immer weniger junge Menschen auf dem Arbeitsmarkt nachrücken, wird es einen Wettrennen um qualifizierte Fachkräfte geben. Zum Teil ist das ja bereits so. Das wird dazu führen, dass die Löhne in sehr vielen Bereichen steigen werden.

Wie wird sich das alltägliche Leben verändern, wenn es immer mehr Rentner und Pflegebedürftige gibt?
Ich denke, gar nicht allzu sehr. Viele Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass die finalen Krankheiten und Mobilitätseinschränkungen immer später einsetzen. Das heißt, der Großteil der Menschen erreicht ein hohes Alter bei guter Gesundheit, die Phase der Pflegebedürftigkeit ist nur kurz. Von denen, die heute 80 sind, sind 70 bis 80 Prozent noch in der Lage, ohne weiteres alleine zu leben. Diese Menschen sind keine Last, sondern nehmen in vollem Umfang am gesellschaftlichen Leben teil.

Heißt das, wir müssen gar nichts tun?
Doch, natürlich. Die Zahl der Pflegefälle wird deutlich steigen, was auch damit zusammenhängt, dass die Alten noch älter werden als heute. Und auch die Zahl der Demenzkranken steigt. Wir müssen deshalb unbedingt dafür sorgen, dass die Pflegekräfte in ihrem Beruf wertgeschätzt und ordentlich bezahlt werden. Das hat höchste Priorität, sonst werden uns schon bald die dringend benötigten Fachkräfte in diesem Bereich fehlen. Die Familien der Betroffenen können das in vielen Fällen nicht mehr leisten und auch die Pflegeversicherung ist ja nur ein Zuschuss, kein Vollkaskoschutz.

Was halten Sie von technischen Assistenzsystemen und Pflegerobotern?
Die Digitalisierung bietet ganz neue Möglichkeiten, etwa in der Telemedizin. Fernbehandlung und Videosprechstunden können ein großer Fortschritt sein, gerade für Menschen, die nicht in den Ballungszentren leben. Dem sollten wir uns nicht verschließen. Der Dienst vom Menschen am Menschen ist aber nicht ersetzbar. Das Bedürfnis nach Nähe, nach Aufmerksamkeit, nach Gesprächen kann eine Maschine nicht erfüllen. Wir werden deshalb auch in Zukunft viele Menschen brauchen, die sich darum kümmern und das auch gerne tun. Ich habe einen Riesenrespekt vor allen, die diese Arbeit haupt- und ehrenamtlich machen.

Früher wurden pflegebedürftige Menschen meist von ihren Angehörigen betreut.
Ja, aber auch hier greift die demografische Verschiebung. In meiner Generation bekamen etwa 10 Prozent aller Menschen keine Kinder, von denen, die 1970 geborenen wurden, sind es 30 Prozent. Das hat natürlich Konsequenzen für die häusliche Pflege. Deshalb finde ich es richtig, dass Kinderlose 0,25 Prozent mehr in die Pflegeversicherung einzahlen als Berufstätige mit Kindern.

Hielten Sie es für richtig, diesen Aufschlag für Kinderlose weiter zu erhöhen?
Ja, ich finde, darüber sollte man nachdenken. Es ist schon wirklich viel, was Familien im Bereich der Pflege leisten. Dafür sollte es einen angemessenen Ausgleich geben, denkbar wäre etwa eine rentenfähige Familien-Pflegezeit.

Sie selbst sind 77 Jahre alt. Wie hat sich Ihr Alltag durch das Älterwerden verändert?
Ich habe zum Beispiel kein eigenes Auto mehr, das Fahren überlasse ich meiner Frau. Ansonsten bin ich zum passionierten Bahnfahrer geworden. Nun wohne ich allerdings auch im Ruhrgebiet, zum Bahnhof und zur nächsten U-Bahn habe ich es nicht weit. Ich kann da gut mit leben, aber eine Umstellung war es schon.

Viele Senioren, die abseits der großen Städte leben, haben es weniger leicht.
Da stellt uns die demografische Entwicklung in der Tat vor große Herausforderungen. Wie wollen wir die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse, die das Grundgesetz fordert, weiter sicherstellen, wenn schrumpfende Regionen abseits der Ballungszentren immer mehr abgekoppelt werden? Dafür bräuchten wir eine gemeinsame Anstrengung von Bund, Ländern und Gemeinden. Und einen Blick, der weiter nach vorn geht, als das momentan der Fall ist.

Woran denken Sie dabei konkret?
Ich bin der Meinung, dass man die Städte und Gemeinden stärken muss – finanziell und personell –, damit sie dieser Aufgabe gerecht werden können. Was wir brauchen, ist ein Altenhilfestrukturgesetz. Jede Stadt muss in ihrem Rat einen Kinder- und Jugendhilfeausschuss haben und regelmäßig über die Zahl der Kitaplätze, den Zustand der Schulen und die Arbeit der Jugendhilfe Rechenschaft ablegen. Für die Älteren gibt es sowas nicht. Dabei ist es für die Lebensqualität einer Stadt doch entscheidend, dass sich alle Generationen dort wohlfühlen. Die Mobilität von Senioren ist dabei ein ganz wichtiger Punkt.

Wovon hängt für Sie ganz persönlich eine hohe Lebensqualität ab?
Mir ist vor allem der Kontakt zu anderen Menschen wichtig, dass ich Freundschaften und Bekanntschaften haben und pflegen kann. Bewegung und Begegnung, so könnte man es zusammenfassen. Das ist Gott sein Dank bei mir immer noch gegeben, ich komme viel rum und treffe viele Leute. Ich weiß aber, dass für viele im Alter Einsamkeit ein großes Problem ist. Auch hier denke ich, dass es in jedem Ort, in jeder Stadt, in jedem Stadtteil Angebote geben müsste, aus der sozialen Isolation herauszukommen. So etwas lässt sich aber nicht von oben herab administrieren, diese Hilfe kann nur direkt vor Ort geleistet werden. Auch das gehört für mich zu einer solidarischen Gesellschaft, zu einer sozialen Stadt dazu.

Gibt es Dinge, an denen Sie ganz besonders hängen? Ein Möbelstück etwa, ein Bild oder eine bestimmte Musik?
Am meisten hänge ich an meinen Büchern, auch die tägliche Zeitung und die Nachrichten sind mir wichtig. Anders als früher muss ich aber nicht mehr an jedem Augenblick des Tages wissen, was gerade auf der Welt passiert. Ich erlaube es mir, mein Handy auch mal zu Hause zu lassen und nicht erreichbar zu sein. Zeit und Muße zu haben für Dinge, die mir Spaß machen und mich interessieren, ist schon ein Stück Lebensqualität, keine Frage.

Würden Sie das Altersweisheit nennen? Mit dem Begriff kann ich wenig anfangen, ich finde ihn irgendwie verbraucht. Es gibt vernünftige alte Menschen und vernünftige junge. Das Leben ist nun mal eine ballistische Kurve: Zum Ende hin geht es nach unten, Leistungs- und Koordinationsfähigkeit lassen nach. Aber soll ich mich darüber beklagen, dass ich japse, wenn ich 30 Stufen raufgegangen bin? Warum? So ist es eben. Dafür haben wir Alten unsere Lebenserfahrung, die wir ausspielen können. Es gibt das Sprichwort: Wir laufen zwar nicht mehr so schnell, aber wir kennen die Abkürzungen. Ich finde, da ist was dran.